Im Projekt “Fakt oder Fake? Konstruktionen und Funktionen von Lost Cities im hellenistisch-römischen Arkadien” werden erstmals gemeinsam zwei eng verwobene Themen erörtert: Der tatsächliche Grad der „Verlassenheit“ ausgewählter arkadischer Städte sowie die Deutung und Instrumentalisierung dieser (realen oder geschaffenen) Verlassenheit durch griechisch-römische Autoren vom Hellenismus bis in die hohe Kaiserzeit.
Durch die vielfältigen Dimensionen der Auseinandersetzung dieser Schriftsteller mit (konstruierten) arkadischen lost cities wird der noch ungestellten Frage nach deren Einfluss auf die Entstehung der Idealvorstellung von Arkadien als Idyll nachgegangen. Kulturübergreifend stehen somit kausale Zusammenhänge im Fokus des Projektes, deren Ursprünge in regionalen und zeitlichen Spezifika gesehen werden kann. Etwa ab dem 3. Jh. v. Chr. wird insbesondere von den bukolischen Dichtern, allen voran Theokrit, der Nährboden für das nach Vergil idealisierte Bild Arkadiens als Sehnsuchtsort für das Stadtbürgertum, letztlich frei von räumlichen und zeitlichen Restriktionen, bereitet, an dem bis in die Neuzeit festgehalten wird.
Eine Verknüpfung von Fiktion und Realität über „materielle Denkmäler“ stellte bereits T. Scheer im Zusammenhang mit der mythischen Kolonisationstätigkeit der Arkader fest. Das Projekt wird die arkadischen lost cities auf diesen Aspekt untersuchen und deren Eignung als „materielle Denkmäler“ zur Verortung des in der Antike für historisch gehaltenen homerischen Opus untersuchen. Als Hypothese gilt, dass eine solche Verknüpfung eine derart hohe Erwartungshaltung bei Schriftstellern wie Leserschaft provoziert haben könnte, dass die Konfrontation mit der die heroischen Schilderungen kontrastierenden Realität unweigerlich zur Enttäuschung führen musste. Vor dem Hintergrund herakliteischer Vorstellungen von stetiger Veränderung und im Sinne des herodoteischen Geschichtsverständnisses wurde die Zuschreibung früherer Größe an die für verlassen gehaltenen arkadischen Städte möglicherweise als alternativlos gesehen: Da sie jetzt klein und unbedeutend waren, mussten sie früher einmal groß und mächtig gewesen sein, ganz so wie von Homer berichtet.
Das beantragte Projekt wird daher die schriftlich kolportierte Verlassenheit arkadischer Städte auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und dazu mittels moderner Methoden generierte archäologische Daten als Quelle nützen. Einerseits geben architektonische Strukturen, besonders die chronologisch gut einordenbare Neuerrichtung oder Renovierung öffentlicher Bauten, Auskunft über die wirtschaftliche Potenz einer Stadt zu einer bestimmten Zeit. Andererseits informiert das Fundmaterial, vorrangig die Keramik, über die sozioökonomische Aktivität und kulturelle Einbindung eines Ortes. Zudem werden die nur in zahlreichen Einzelstudien erwähnten Fundmünzen in Form einer Synthese ausgewertet werden, was ein Novum in der numismatischen Forschung Arkadiens darstellt. Davon sind Auskünfte über Besiedlungskontinuitäten und mit dem Gebrauch von Münzen in Zusammenhang stehende Handlungskontexte aller Art, darunter wirtschaftliche und politische, zu erwarten.
Erstmalig und interdisziplinär wird so untersucht werden, wo eine literarische Konstruktion von lost cities in Arkadien vorliegt. Zurzeit scheint die Annahme einer Verstrickung von Interpretations-, Wissens- und Wahrnehmungskultur von Autoren wie Zielpublikum plausibel.
Kulturhistorisch relevant ist zudem die Ergründung gesellschaftlicher und medialer Dynamiken, die aus der Konstruktion und Vermittlung von Narrativen entstehen und bis in die Gegenwart beobachtbar sind. Neben Schriftquellen kommt dabei vor allem Bildquellen große Bedeutung zu, deren Inhalte zur Beeinflussung verschiedenster gesellschaftlicher Prozesse instrumentalisiert werden. Diesem Aspekt wird im gegenständlichen Projekt besonders über die numismatische Analyse der Münzbilder Rechnung getragen. In einer diachronen Perspektive können die aus dem antiken Arkadien gewonnenen Forschungsergebnisse daher zum Verständnis moderner Erzählungen von Transformationsprozessen und zur Entwicklung neuer Formen des Umgangs mit derartigen Narrativen beitragen.